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Bericht zum 6. Flötenevent
23./24. Oktober 2004 in Boswil
von

Ursina Brun, Madeleine Bischof, Michael Ross


Auch in diesem Herbst haben die beiden Organisatoren von „The New Flute Generation Switzerland“ ein interessantes Programm zusammengestellt. Pädagogen aus der Schweiz und dem nahen Ausland verirrten sich nicht im dichten Frühnebel, sondern kamen zahlreich und motiviert in die schöne Kirche Boswil. Jährlich freut man sich auf den angeregten Austausch mit Berufskollegen und genießt es, selber neue Impulse zu bekommen. Die Anforderungen an uns Musiklehrer werden immer größer, da wir eine materiell überstrapazierte Jugend unterrichten, die oft vom Schulalltag sehr gefordert ist und dennoch mit entgegengesetzten Werten, wie dem der Musik, ein wichtiges Gut erlernen möchte. Der Musikunterricht sollte deshalb einen wachsamen, gesunden und menschenbildenden Auftrag erfüllen. Dieser Event, im Zeichen der Pädagogik, mit Workshops, Vorträgen, Showcases und Besuchen bei den Ausstellern, gestaltete sich sehr abwechslungsreich.


Heinrich Keller (Flötist, Komponist, Pädagoge an der Musikhochschule Winterthur Zürich)

eröffnete das Wochenendes mit einem überaus provokativen Thema: „Vortragen statt Üben“, so seine Devise. Schrittweise führte Keller die ZuhörerInnen zu neuen Gedankengängen. „Wie, was und in welcher Verfassung spiele ich als erstes, wenn ich mein Instrument auspacke?“ Drei Kollegen zeigten uns nun, wie sie den Tag mit ihrem Instrument beginnen. Zu hören waren da z.B. eine chromatische Tonleiter, oder ein anderer sagte, er würde sich täglich selber mit einer Melodie überraschen, was ich noch originell fand. Nun, worauf wollte das Experiment hinaus? Hier fragte Heinrich Keller: „Wie würden Sie am Morgen Ihren Partner begrüßen? Mit welcher inneren Haltung und mit welchen Worten würden Sie das tun?“ Und genau so beherzt und freundlich sollten wir mit der Flöte in den Tag steigen. Wir spielten den Anfang einer Melodie aus einer Sammlung bekannter Werke für Flöte, die als Vortragstraining integraler Tongestaltung dient, und zwar so langsam und sorgfältig, daß man diese fehlerfrei, ohne Streß und mit dem gewünschten Ausdruck spielen kann. „Denn wer sich täglich mit der Entwicklung und Erhaltung seiner schöpferischen Fähigkeiten befaßt, statt sich mit den üblichen und oft zwanghaften instrumentalen Übungsritualen abmühten, ist näher an der musikalischen Wirklichkeit und erzielt in einer ganzheitlichen Wahrnehmung von Musik und Klang auf angenehme und sinnvolle Weise schließlich auch die besseren Ergebnisse“, sagte Keller. Die Werkanfänge aus der besagten Sammlung sind nach Epochen gegliedert, können aber auch nach thematischen Kriterien gespielt werden.
Nun wurden gewisse Zweifel laut bei der Vorstellung, man solle nicht üben, sondern einfach gut vortragen. Klar müssen da einzelne Stellen unter die Lupe genommen werden, trotzdem sollte aber der musikalische Fluß und der künstlerische Aspekt immer mit einbezogen werden. Allzu oft sind wir darauf verbohrt, uns bei technischen Schwierigkeiten aufzuhalten, ohne zu verstehen, weshalb wir da nicht weiterkommen. Diese Sorgfalt, stets podiumsreif sich selber vorzuspielen, ist ein großes Anliegen. Gewiß ist es zeitsparend, vorausgesetzt, die technischen, tonlichen und körperlichen Parameter stimmen. Das integrale Tongestaltungskonzept von Heinrich Keller bezieht sich maßgebend auf diesen erwähnten Einpielvorgang. Durchaus kann ich mir aber vorstellen, daß ich schwierige Passagen eines Werkes auf dieselbe ungezwungene Weise, zu Beginn des Tages, mir vortragen könnte. In dieser Weise sich mit dem Instrument beschäftigen heißt, sich mit der Musik verbinden, sich dem übergeordneten Schöpferischen und der Inspiration hingeben und nicht zuletzt auch sich selber wahrnehmen.


Anschliessend geht es weiter mit einem sehr inspirierenden Beitrag von Jonas Lindenmann.

Er beginnt sehr eindrucksvoll mit einem künstlerischen Kleinod. Ein kurzes Stück für Flöte solo, betitelt mit Boswil, gerade eben an diesem Morgen fertig gestellt, "frische Ware" also. Wir dürfen an einer Uraufführung teilhaben. Lindenmann zeigte sich schon durch frühere Kompositionen als ein "Feingeist" der Melodieführung. Ein sensibel sich entwickelndes Stück, das sich tragen lässt durch die Ambivalenz des wohligen Melos, angereichert durch "östlichem und aleatorisch Anmutendes", und dem dramatisch aufgeladenen Mehrstimmigen, dadurch modern Mehrdeutiges. Das Stück ist eine Miniatur mit einer in sich perfekt anfühlenden Balance. Wir sind alle gespannt, was aus seiner Feder wohl noch fliessen wird.
Und jetzt wird es intim: Er gewährt uns einen tieferen Einblick in die flötistische Mehrstimmigkeit. Ueber eine sehr klar nachvollziehbare Methode begreifen wir, dass es keinen Ansatz für zwei Töne gibt, sondern nur für einen der beiden, und die Mehrstimmigkeit wird durch die Stellung der Stimmbänder erzeugt, die übers Singen erreicht wird und nur noch "übers gefühlte Singen" zu einem optimalen Resonanzeffekt im Kehlkopfbereich führt.Kontrollierter, steuerbarer Mehrklang ist das Ergebnis. Wir sind alle überzeugt von diesem Ergebnis und vor allem von der Klarheit und Verständlichkeit die Jonas Lindenmann vermittelt. Das Wichtigste ist, dass eine neue und die folgenden Generationen von Flötisten an der Mehrstimmigkeit als selbstverständliches künstlerisches Ausdrucksmittel nicht vorbeikommen werden. Leider hören die meisten Flötenschulen da auf, wo es weitergehen soll. Die Impulse, die Lindenmann hier setzt, können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wir hoffen alle noch auf mehr "Breitenwirkung".

Das Musikalienhaus Notenpunkt eröffnete das erste Showcases dieses Events.

Die Geschäftsführerin Katharina Nicca erörterte die Struktur und das Anliegen diese relatv neuen Geschäftes für Musikalien in Zürich und Winterthur.

Das Musikhaus Gurtner mit seinem sympathischen Chef Christoph Gurtner

überraschte mit der Präsentation der Parmenon Flöten durch Silvie Dambrine.Gleichzeitig war auch Monsieur Parmenon höchstpersönlich anwesend.


Der Beitrag des Flötisten Jos Rinck konnte wegen eines Todesfalles in der Familie nicht stattfinden. So entstand eine Lücke, in der sich spontan Marc Iwaszkiewicz und Alexander Hanselmann bereit erklärten, einen kurzen Vortrag zu halten.


Marc Iwaszkiewicz gewährte uns einen kurzen Einblick in die Technik der Zirkuläratmung.

Es ist eigentlich eine alte Technik, der sich z.Bsp. die australischen Ureinwohner beim Blasen des Didgeridoos bedienen. Für uns Flötisten wird sie vor allem im Bereich der modernen Musik interessant. In seiner ruhigen Art trennt Marc Iwaszkiewicz den Prozess in drei Einzelschritte, um dann sehr galant den Uebergang in das "runde Fliessen" der Permanentatmung überzuleiten. Man verliert die Scheu davor und bekommt gleichzeitig Lust dies zu probieren.


Alexander Hanselmann führt uns ebenfalls in die Mehrstimmigkeit wie Jonas Lindenmann.

Er macht es allerdings auf ganz andere Art. Er nimmt den bekannten Kanon "Meister Jakob", lehrt uns, ihn gleichzeitig auf der Flöte zu spielen und ihn zu singen, stellt mehrere Flötisten mit dieser Technik in ein Ensemble, und fertig ist der vielstimmige Kanon. Eindrucksvoll, packend, viel Humor, praktikabel, sofort anwendbar und somit pädagogisch sehr wertvoll. Als Nachspeise lässt er uns in ein Körperspiel über den sechsachtel Takt und die Vierteltriolen hineinschmecken, denn er fordert uns alle auf, mit zu machen. Wir tun das und sind höchst zufrieden und im Geist und Körper schön locker. Das ist die Kraft des spontanen Vortrages mit viel Erfahrung im Gepäck. Wir danken mit viel Applaus.


Als letzter Arbeitspunkt am Samstag führt uns Marc Iwaszkiewicz in die Welt der physiologischen Grundlagen des Atems allgemein, und des Atmens beim Blasen eines Instrumentes im Speziellen. Klar, ruhig und mit äusserster Sorgfalt breitet er uns Zusammenhänge von Zwerchfell, Wirbelsäule, Kehlkopf, Nase, Lunge; Becken und Brustkorb aus. Er ist hauptsächlich als Atemtherapeut tätig und wird wohl einigen von uns bisher noch nicht dagewesenes Verständnis ermöglicht haben, von diesem hochkomplexen Vorgang, der uns ja Gott sei dank so selbstverständlich unbewusst von der Hand geht. Auch hier die praktischen Uebungen und Tipps zum Mitnehmen, die jeder sofort nachvollziehen kann, und den Vortrag noch wertvoller machen als er onehin schon ist.


Am Samstagabend dann, wie jedes Jahr, das schon heiss ersehnte Konzert. Allein die Kirche in Boswil: Ein besonderer Ort um Musik zu ermöglichen. Ideale akustische und inspirierende architektonische Verhältnisse, und wenn man so will, kraftvolle geschichtliche Verhältnisse. Es beginnt mit einem Werk von Madeleine Bischof. Wir kennen sie bereits als tief fühlende Komponistin von einem vergangenen Konzert in Boswil. Nun lässt sie ihr Werk "wild at flutes" (2004) erklingen. Hier weht frischer Wind im wahrsten Sinne des Wortes. Sie bettet die Gemeinde der NFG mit 20 Flötistinnen ein, stellt sie rund um das Publikum auf und lässt, quasi im Dolby Surround Verfahren, neue "Flöten- und Blastöne" rund um uns kreisen. Soviel jugendliche Frische lässt unsere Herzen komplett aufreissen. Staunen, Begeisterung, herzlichen Applaus! Ein echtes Erlebnis.
Vor der Pause versetzt uns Marc Iwaszkiewicz mit seinem Didgeridoo und dem Obertongesang nochmals in den Zustand fast schon einer Meditation gleich. Er lotet sowohl den Raum der Kirche mit seinen Klängen aus, als auch den "Inneren Raum" in uns selbst. Viele schliessen die Augen und folgen seinen modalen Linien, wie Echolote.
Nach der Pause ein weiteres Highlight. Philippe Racine lässt (t)air(e) pour flûte seule (1980/1983) von Heinz Holliger erklingen. Völlig selbstverständlich, in der technisch höchsten Perfektion spürt man das tiefe innere Engagement von Racine zum Werk, und des Werkes zu sich selbst. Die wahrlich dramatische Kraft des Werkes, brillant erzeugt durch Gegensätze und ambivalente Emotionen ausleuchtend, hinterlassen einen tiefen Nachklang.
Es folgt Heinrich Keller und Brigitta Steinbrecher mit einem Werk für Flöte und Klavier von Jia Guoping (*1963) "Schweben über grenzenlosem Feld" (2002). Heinrich Keller stellt der Musik eine sensible Erläuterung der jungen chinesischen Komponistengeneration voran. Es findet aktuell eine Wiederanbindung an das Traditionelle statt. Bilder tauchen während des perfekten und gleichzeitig sehr beseelten Spiels auf: Feingliedrige Tuschzeichnungen, chinesische Reisfelder, die Kraft der Pause und der Versammlung. Wir staunen wieder einmal.


Der Sonntag beginnt mit einem "flötenpädagogischen Event" der Sonderklasse.

Gerhard Braun stellt uns seine Flötenschule für Fortgeschrittene vor. Braun ist einer der "Grossen" der Flötenpädagogik und der Musikwelt überhaupt. Das kann man unverblühmt sagen. Die Ernsthaftigkeit, mit der er sich in den Dienst der Musik und Ihrer Vermittlung stellt, hat eine pure Kraft. Seine leuchtenden neugierigen Augen schaffen sofort den Kontakt und wir folgen seinen Ideen. Er stellt aus uns Teilnehmern ein Trio zusammen, und lässt so immer wieder erklingen, was er uns vorher von der Idee her analysiert. Ein perfekt durchdachtes und verzweigtes System, das den Bedürfnissen des einzelnen und der Gruppe gleich gerecht wird.
Gerhard Braun ist ein äusserst erfahrener Musiker mit weitem Horizont, der auch mit weniger begabten Schülern umgehen kann. Ein Zitat, welches mir aus seinem Referat geblieben ist: "Ganz gleich, wann ein Schüler mit dem Unterricht aufhört, er sollte etwas Grundlegendes über Musik erfahren haben".


Stefan Keller stellte ein gelungenes Praxisheft für den täglichen Gebrauch vor.

Sein neues Heft "Improve it!" bietet dem Profi, aber auch dem weniger erfahrenen ambitionierten Schüler eine Fülle von Uebungen, die Spass machen. Aeusserlich hat das Heft ein sehr ansprechendes grafisches Layout, ein weiterer Grund, dass man das Hefte gerne zur Hand nimmt. Die Erklärungen am Anfang jedes Kapitels sind kurz und prägnant. Sie weisen auf einfache und verständliche Art auf die essentiellen Punkte hin. Fantasievolle Vergleiche helfen, das Gesagte zu verstehen. Beim Kapitel Fokussieren finde ich z.Bsp. die Idee, das Erreichen eines brillianten Klanges mit dem Scharfstellen beim Fotografieren zu vergleichen, sehr gut. Am Anfang des Heftes stellt Keller zwei ganz einfache, aber effektive Tipps vor, wie man schwierige Stellen meistern kann. Die Uebungen sind technisch nie zu schwer und musikalisch ansprechend, sodass der Fokus immer auf einem schönen Klang liegt. Speziell die harmonischen Tonübungen sind wunderschön.

Das Showcase von Musik Hug wurde vom Leiter der Blasabteilung und Flötenspezialisten

Markus Haeller gehalten. Auch die Notenabteilung von Musik Hug war mit einer grossen Auswahl anwesend.und wurde von Irene Spengler betreut.

Wolfgang Kossack war mit seiner Edition und einem interessanten Vortrag über

die Leiden einer Edition anwesend.

Ein weiterer Aussteller ist das Flöten Studio Basel, welches von Keizo Yokoyama

mit viel Herzblut und Sachverstand betrieben wird.


Anna-Katharina Müller stellt uns die Hefte von Roger Mather

"The Art of playing the Flute" auf sehr sympathische und anschauliche Art vor. Die Hefte "Atem", "Ansatz" und "Haltung" geben uns eine Fülle von brauchbaren Tipps für den Unterricht weiter.


Neu im Rahmen des Flötenevents war der Vortrag den Hector Herzig hielt.

Keine handwerklichen flötenspezifischen Belange wurden beleuchtet, sondern quasi eine Art philosophisch soziologischer Ueberbau oder sogar Unterbau. Kultur und Demokratie, Kultur und Wertekrise unserer modernen Gesellschaft, die öffentliche Aufgabe die somit uns Musikschaffenden und Musikerziehenden zufällt. Unsere Welt im Zusammenhang von Kultur, Bildung und Gesellschaft. Mahnend und Hoffnungs gebend zugleich. Die Dringlichkeit kam dadurch zum Ausdruck, dass sich spontan danach im kleinen Kreis eine Art "Minisymposium" gebildet hat. Viele Gedanken wurden ausgetauscht. Herzlichen Dank Hector Herzig.


Philippe Racine ist ein wunderbarer Flötist.

Einer der wenigen, der moderne Kompositionen so spielen kann, dass sie einen im innersten berühren. Sein Workshop "3 Meilensteine der Sololiteratur für Flöte" beantwortete alle Fragen, die er im Flyer versprochen hatte.
Es war für mich wunderbar, dass es zum Abschluss des zweitägigen Flötenevents bei Philippe Racine nur noch um Musik, und nicht mehr um technische Hilfsmittel wie Atmung, Haltung, Ansatz, u.s.w. ging. Es zählte nur noch das Wichtigste, die musikalische Gestaltung. Sehr befreiend. Racine verstand es auch, Inhalte spannend rüber zu bringen.

 

Jonas Lindenmann und Stefan Keller möchten

Ursina Brun, Michael Ross und Madeleine Bischof für den Bericht zum Event 2004 ganz herzlich danken.

 

Die Aussteller:
Musikhaus Gurtner, Meilen / Musik Hug, Zürich / Notenpunkt, Zürich & Winterthur
Edition Kossack, D-Rheinfelden / Flöten Studio, Basel
Flöten, Flötenkopfstücke, Noten & CDs

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